Text: Adrian Knöpfli *
Als 1810 auf Initiative des Zürcher Stadtarztes Hans Caspar Hirzel in Zürich die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) gegründet wurde, waren auch zwei Schaffhauser dabei: der Pfarrer und Professor Johann Jacob Altorfer und sein Sohn Johann Caspar. Deren wichtigstes gemeinnütziges Engagement war in der Folge die Schaffhauser Unterstützungsanstalt für Blinde, die der blind geborene Sohn 1811 zum Dank dafür stiftete, dass er vom berühmten deutschen Augenarzt Johann Heinrich Jung erfolgreich operiert worden war. Bei der Unterstützungsanstalt, welcher Altorfer senior vorstand, handelte es sich um den ältesten schweizerischen Verein für Blindenfürsorge.
Fürs Praktische die Hülfsgesellschaft
Die Gemeinnützigen Gesellschaften waren Vereinigungen bürgerlicher Menschenfreunde, die sich als Diskussionszirkel zur Erörterung sozialer, erzieherischer und gewerblicher Fragen verstanden. Die praktische Arbeit sollten die Hülfsgesellschaften übernehmen. Auch in Schaffhausen, wo die GG zunächst nicht in fest gefügter Form bestand, wurde im Hungerjahr 1816 eine Hülfsgesellschaft ins Leben gerufen. Diese betrieb als Erstes eine Suppenküche, und als weitere Gründungen folgten eine – heute noch florierende – Ersparniskasse, ein Töchterinstitut und ein Waisenhaus. Ferner gewährte die Hülfsgesellschaft Einzelunterstützungen an Bedürftige.
Von der GGS finden sich in den ersten fünfzig Jahren nur vereinzelte Spuren, und die Schaffhauser Sektion schlief immer wieder ein. Nicht zuletzt nach einer Aufforderung von Seiten der SGG ergriff Ferdinand Zehender die Initiative zu einer Neugründung, die 1860 erfolgte. Ihm zur Seite stand in der Person von Johann Friedrich Peyer im Hof eine prominente Schaffhauser Persönlichkeit, und die Vertreter der eben erst entstehenden Schaffhauser Industrie waren in der neuen Gesellschaft gut vertreten. Peyer im Hof war Nationalrat, Mitgründer der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft (SIG) in Neuhausen, Direktor der Nordostbahn sowie Verwaltungsrat der Schweizerischen Kreditanstalt und der Rentenanstalt. Er wurde Präsident der GGS und präsidierte die Jahresversammlung der SGG, als diese 1871 erstmals nach Schaffhausen kam.
Die Schweiz als Auswanderungsland
Die neue GGS, von Zehender ermahnt, zu beweisen, «dass in deren Versammlungen nicht blos beraten, sondern auch etwas gethan werden wolle», stürzte sich förmlich in Aktivitäten. Trotzdem blieb die Klage über mangelndes Engagement und eine zu geringe Mitgliederzahl eine Konstante. Ein Thema, das die Gemeinnützigen Gesellschaften immer wieder beschäftigte, war die Auswanderung. Die Frage war, ob man die Auswanderung als eine Lösung des Armutsproblems akzeptieren und in diesem Falle die Auswandernden,
wenn sie denn schon gehen mussten, entsprechend unterstützen sollte. Ab den 1860er Jahren wurde die Diskussion vom Schaffhauser Nationalrat Wilhelm Joos geprägt. Joos, der mehrmals Nord- und Südamerika bereiste und in Brasilien und Kolumbien als Arzt und Zahnarzt gewirkt hatte, war ein visionärer Querdenker. Er propagierte als Antwort auf die ländliche Überbevölkerung und die Arbeitslosigkeit nicht die Industrialisierung, sondern die geregelte Auswanderung nach Übersee. 1860 schloss Joos einen Vorvertrag mit der Regierung von Costa Rica zwecks Schenkung von Regierungsland an die Schweiz zur Gründung einer Kolonie. Seine Bemühungen, die SGG und den Bundesrat für den Plan zu gewinnen, waren aber vergeblich, und auch seine späteren Vorstösse blieben erfolglos.
Ein wichtiges Anliegen der GGS war die Berufsbildung.
So setzte sich die GGS für gewerbliche Fortbildungsschulen ein, initiierte die Handarbeitsschule für Knaben und gründete 1897 gemeinsam mit dem kantonalen Gewerbeverein das Lehrlingspatronat, das Jugendliche und ihre Eltern bei der schon damals nicht einfachen Lehrstellensuche unterstützte. Auf der Ebene der Aufklärung und Allgemeinbildung förderte die GGS Sonntagslesesäle für Handwerker und Arbeiter, den Verein zur Verbreitung guter Schriften und Bestrebungen für einen Saalbau, den man ursprünglich mit einer Volksküche kombinieren wollte. Eine sehr langlebige Institution war das 1872 eingerichtete Asyl für Fabrikarbeiterinnen, das es den Arbeiterinnen erlaubte, abends in Ruhe und unter Anleitung Näh- und andere Arbeiten zu erledigen.
Im Bereich der Erziehung benachteiligter Gruppen war es das Verdienst der GGS, dass der Kanton 1910 im Gut Löwenstein in Neuhausen eine «Anstalt für bildungsfähige schwachsinnige Kinder» eröffnen konnte, aus welcher später das Pestalozziheim hervorging. Sie hatte den Bauplatz beschafft und eine erfolgreiche Geldsammlung durchgeführt.
Die «schönste Schöpfung» der GGS
Zur Haupttätigkeit der GGS entwickelte sich ab den 1890er Jahren die sogenannte Ferienversorgung (heute: Schaffhauser Ferienlager), deren Ferienheim in Büttenhardt 1910 als «die schönste Schöpfung der Gemeinnützigen Gesellschaft» bezeichnet wurde. Die Ferienlager hatten, wie die später hinzugekommene Schülerspeisung und die Schülergärten, das Ziel, die physische und psychische Gesundheit der Kinder aus der städtischen Unter- und Mittelschicht, die oft in prekären hygienischen Verhältnissen lebte, zu verbessern. Das Heim in Büttenhardt wurde nach dem Ersten Weltkrieg durch ein Hotel in Heiden und schliesslich 1974 durch das Jugendzentrum Churwalden abgelöst, aus welchem das «Pradotel» hervorgegangen ist.
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte es der GGS nicht an Aufgaben, wie auch eine beeindruckende Aufzählung der in den 1930er Jahren regelmässig unterstützten Institutionen zeigt: Anstalt Friedeck in Buch, Kinderheim Löhningen, Töchterinstitut Steig, Kinderhort, Fabrikarbeiterinnen-Asyl, Gemeindestube Beringen und Volksheim Stein am Rhein, Kommission für Handfertigkeitsunterricht, Wanderarme, Stiftungen für das Alter und pro Juventute, weibliche Berufsberatung, Verein zur Verbreitung guter Schriften, Erziehungsverein, Hilfsverein für Geisteskranke, Samariterverein, Zweigverein vom Roten Kreuz, Krippenverein und Frauenkrankenverein.
Doch mit der Hochkonjunktur änderte sich die Situation: Viele Werke wurden mit der Zeit überflüssig oder – zum Teil schon früher – von der öffentlichen Hand übernommen. So suchte die GGS in den 1970er Jahren, nach dem Wegfall von Schülerspeisung und Schülergärten, schon beinahe verzweifelt nach neuen Betätigungsfeldern, mit denen «weitere Bevölkerungskreise auf die Leistungen der GGS und ihrer Institutionen aufmerksam gemacht werden» sollten. Ein solches fand sie im IDEM (Im Dienste eines Mitmenschen), der heute neben den Ferienlagern und dem Pradotel den dritten GGS-Bereich bildet: Seit 1978 leisten Freiwillige im Kantonsspital, im Pflegezentrum und im Psychiatriezentrum Breitenau unzählige Einsatzstunden. Dabei sind sie keine Konkurrenz zu den Pflegenden, sondern sie entlasten diese durch die Übernahme von vielen hilfreichen Diensten.
* Zur Geschichte der GGS erscheint im April 2010 eine von Adrian Knoepfli verfasste Publikation: Von «wohlthätigen Menschenfreunden» gegründet. 200 Jahre Gemeinnützige Gesellschaft Schaffhausen, 1810–2010.